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Portrait

Die sängerische Kreativität fördern

Michael Betzner-Brandt und sein „Ich kann nicht singen“-Chor

Michael Betzner-Brandt ist freier Chorleiter und Musikpädagoge in Berlin. Er leitet dort fünf Chöre: die Fabulous Fridays, den JazzPopChor der Universität der Künste Berlin, einen Semesterchor der gleichen Hochschule, einen klassischen Chor (Consortium musicum Berlin), den Jazzchor BerlinVokal und – seit zirka einem Jahr – den Chor „High Fossility“, einen Rock- und Popchor für Senioren, der mittlerweile 80 Mitglieder hat und einen Aufnahmestopp verfügt hat. Auf die Frage, ob seine Chöre Laienchöre seien, sagt er: Es sind Chöre von Leuten, die nicht bezahlt werden, die aber dennoch auf einem hohen Niveau singen.

Michael Betzner-Brandt hat Schulmusik, Philosophie und Chorleitung studiert. Sein Buch zum Thema „Singen ohne Noten“ wird zur chor.com, der ersten Chormesse im September in Dortmund, erscheinen. Im Rahmen dieser Veranstaltung wird er auch einen „Ich kann nicht singen“-Chor anbieten, eine Spezies, mit der er inzwischen viel Erfahrung gesammelt hat. Über die Angst vor dem Singen, das Singen ohne Noten und Kreativität in den Chören, die es zu fördern gilt, sprach Barbara Haack mit ihm für „Oper & Tanz“.

Oper & Tanz: Aus der eigentlich paradoxen Bezeichnung „Ich kann nicht singen“-Chor spricht die Annahme, dass die meisten der Teilnehmer eben doch singen können. Können alle Menschen singen?

 
Vielseitiger Chorleiter: Michael Betzner-Brandt. Foto: Caroline Engelmann
 

Vielseitiger Chorleiter: Michael Betzner-Brandt. Foto: Caroline Engelmann

 

Michael Betzner-Brandt: Jeder, der sprechen kann, kann auch singen. Jeder, der mit seiner Stimme Töne erzeugt, kann singen. Man muss natürlich wissen, was man unter Singen verstehen will. Man kann auf jeden Fall singen in dem Sinne, dass man selbst dabei eine tolle Erfahrung macht, dass es sich für einen selbst gut anfühlt.
Dann ist Singen eine wunderbare Art, um miteinander in eine Kommunikation zu treten. Das geht viel einfacher als zum Beispiel mit Instrumenten. Das beginnt damit, dass einer etwas vorsingt und andere das oder etwas anderes nachsingen. In einem dritten Schritt geht es erst darum, ob der Gesang auch für ein Publikum interessant ist, ob man damit auf eine Bühne geht.

Mein Ansatz ist also, zuerst einmal das Gefühl des Singens im eigenen Körper zu spüren mit der Resonanz, mit dem Atem – und dann erst in der Gruppe.

O&T: Spätestens aber, wenn ich in einer Gruppe singe, muss ich ja etwas können, weil ich sonst meine Mitsänger störe.

 
Bewegung gehört auch zum „Ich kann nicht singen“-Chor. Foto: Christof Müller-Girod
 

Bewegung gehört auch zum „Ich kann nicht singen“-Chor. Foto: Christof Müller-Girod

 

Betzner-Brandt: Die Frage ist, was man singt oder mit welchen ästhetischen Vorstellungen man darangeht. Ich singe mit Gruppen zum Beispiel manchmal ein Konzept, das heißt „Raumklang“. Da geht es darum, lange Töne zu singen und unterschiedliche Tonhöhen nebeneinander anzustimmen – in einer Art Cluster. Das erinnert entfernt an „Lux aeterna“ von Ligeti, und es gibt da keine falschen Töne. Da könnte man sagen: Falsche Töne sind vielleicht diejenigen, die zu sehr in die Harmonie passen. Es geht dabei darum, dissonante Klänge zu entwickeln, da kann man nicht falsch singen. Und es ist ein faszinierendes Klangerlebnis.

Der Titel „Ich kann nicht singen“-Chor vermittelt ja zunächst einmal die Botschaft: Trau dich, es macht Spaß. Singen ist schön. In Casting-Shows ist es üblich zu sagen: Du kannst ja gar nicht singen. Das möchte ich erst einmal hintanstellen.

O&T: Es muss aber doch eine Grenze geben, an der ich sage: Ab jetzt will ich mich musikalisch und sängerisch auf eine nächst-höhere Ebene bewegen.

Betzner-Brandt: Ja, natürlich. Die gibt es, und sie entwickelt sich oft aus der Gruppe heraus. Die Gruppe fragt: Wie kommen wir weiter? Man fängt an, Kriterien einzuführen. Wenn sich dann unterschiedliche Fähigkeiten entwickeln, muss man sehen, wie man damit umgeht. Die Idee beim „Ich kann nicht singen“-Chor ist, dass man Musik macht mit dem Material, mit den Ideen, mit dem musikalischen Können, das die Leute mitbringen. Und dass man nicht mit einem Stück kommt und sagt: Das müsst Ihr jetzt singen. Die Idee ist ganz „basisdemokratisch“. Natürlich muss man die Leute auch dazu bewegen, dass sie sich trauen.

O&T: Woher kommt denn diese Angst, die häufig hinter der Behauptung „Ich kann nicht singen“ steht? Wie kann man sie überwinden?

Betzner-Brandt: Ich glaube, die Angst wird oft von außen herangetragen, beispielsweise durch Kommentare von anderen, von Lehrern zum Beispiel. Musiklehrer können eine wichtige Instanz sein. Beim Singen ist es eine wichtige Sache, dass man eine wertschätzende Atmosphäre schafft. Die Liebe zum eigenen Gesang ist ein sehr empfindliches Pflänzchen, das auch schnell kaputt gehen kann.

O&T: Die eine Facette ist die Musikalität, die viel mit Hören zu tun hat. Die andere ist die stimmliche Disposition und Technik. Arbeiten Sie mit Gruppen in solchen Zusammenhängen auch stimmlich?

Betzner-Brandt: Erst mal nicht. Die Idee ist, dass jeder zunächst seine individuelle Stimme einbringt. Ich gebe keinen Stimmbildungsunterricht. Aber ich stehe natürlich immer in einem musikpädagogischen Zusammenhang. Ich achte darauf, dass die Leute so singen, dass sie gleichzeitig zuhören, dass sie mit der Stimme so umgehen, dass es physiologisch gesund ist, dass sie nicht forcieren. Mein Prinzip heißt: Alles, was sich gut anfühlt, ist auch stimmlich erst einmal in Ordnung.

O&T: Der „Ich kann nicht singen“-Chor basiert auch auf der Idee „Singen lernen ohne Noten“. Sie singen mit Ihren Chören aber sicher auch nach Noten. Wo hört das Singen ohne Noten auf, wo geht es mit der Note los?

Betzner-Brandt: Das läuft parallel. Ich singe eigentlich mit allen meinen Chören zum Teil mit, zum Teil ohne Noten. In Konzerten mit dem Jazzchor singen wir immer einige Stücke, die improvisiert werden.

O&T: Gibt es aus Ihrer Sicht Menschen, von denen Sie sagen: Der kann wirklich nicht im Chor – also mit anderen gemeinsam – singen?

Betzner-Brandt: Es kommt auf den Anspruch an. Natürlich gibt es Leute, die können nicht in einem Chor singen, der Bach-Motetten oder die h-Moll-Messe im Programm hat. Es gibt auch Leute, denen es schwer fällt, die Töne zu treffen. Gleichwohl – und das merke ich zum Beispiel bei meinen „High Fossilities“ – geht es auch um die Frage ob jemand mit seiner Musikalität, mit seiner Persönlichkeit „rüberkommt“. Das ist dann vielleicht ein etwas anderes Paradigma.

In einem klassischen Chor gelten natürlich Regeln und Gesetze. Wenn man dort eine einzelne Stimme raushört, dann sagt man: Das ist ein schlechter Chor, weil das übergeordnete Paradigma die Homogenität ist. Wenn man dieses Prinzip aber aufgibt, kann es auch schön sein, individuelle Stimmen zu hören. Ich persönlich finde das nicht nur aus pädagogischen, sondern auch aus künstlerischen Gründen spannend. Wenn man dann noch einen Schritt weiter geht und das Feld der Neuen Musik betritt, dann kommt es gerade auch auf musikalische Individualität und eigene Kreativität an. Da geht es überhaupt nicht um Homogenität.

Ich würde mir wünschen, dass viele Chorleiter diese verschiedenen Arten, miteinander zu singen und miteinander Musik zu machen, in ihr Repertoire aufnehmen. Das ist gar keine Entweder-Oder-Frage. Man kann zum Beispiel beim Einsingen mal Response-Übungen ausprobieren oder ein Klangkonzept mit langen Tönen singen. Man kann auch einmal die Rollen aufheben: Dass nicht immer der Chorleiter etwas vorsingt, sondern dass eben auch die Chorsänger selber etwas vorsingen und dadurch das System „demokratisiert“ wird, dass die Rollen sich auflösen.

O&T: Empfehlen Sie das auch dem Chorleiter eines Profi-Chors?

Betzner-Brandt: Ja. Wenn man die Ideen, die musikalische Kreativität der Sänger mit einbezieht und sie zeitweise die Verantwortung für eine Gruppe übernehmen lässt, kann daraus ein großes kreatives Potenzial entstehen. Es gibt natürlich dann auch wieder den Punkt, an dem eine künstlerische Entscheidung getroffen werden muss und wo klar sein muss, wer diese trifft.

O&T: Diese zeitweise Rollen-Umverteilung hat ja auch mit Individualisierung, mit dem Heraustreten aus dem Kollektiv zu tun.

Betzner-Brandt: Ja, als Chorsänger kann man der Meinung sein, man sei nur ausführendes Organ, letztes Glied in der Kette. Man singt den Text des Textdichters, man singt die Töne des Komponisten – dann hat man noch einen Chorleiter, der einem genau sagt, was man zu tun hat. Der eigene künstlerische Gestaltungsspielraum, die eigene künstlerische Freiheit und Entscheidungsmöglichkeit sind nicht so groß. Was für eine bestimmte Art von Musik auch wunderbar ist. Aber man kann die Intelligenz und Kreativität einer solchen Gruppe durch eine Verlagerung der Rollen noch einmal neu wecken. Das ist übrigens auch ein spannender gruppendynamischer Prozess. Ich kann das jedem nur empfehlen.

Informationen über die Angebote von Michael Betzner-Brandt findet man unter www.chorcreativ.de.

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