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Komponist und Intendant
Zum 100. Geburtstag von Rolf Liebermann · Von Nikolas Kerkenrath Im Jahr 2010 wird – auf beiden Seiten des Rheins – großer
Musiker gedacht: Frédéric Chopin, Robert Schumann,
Gustav Mahler; auch eines Rolf Liebermann? Da war doch mal was!
Vor über 30 Jahren hat das nur 7-jährige Regnum von Liebermann
das Pariser und somit das französische Opernleben grundlegend
verändert und nachhaltig geprägt, zuvor – von 1959
bis 1973 – hatte derselbe Kulturweltbürger aus der Schweiz
die Hamburgische Staatsoper zum modernsten und mutigsten Opernhaus
der Welt gemacht.
Geboren wurde Rolf Liebermann am 14. September 1910 in Zürich.
Die Familie hatte schon einen großen Künstler hervorgebracht:
Der Maler Max Liebermann war der Bruder des Großvaters. Rolf
Liebermann studierte nach dem Abitur zuerst Jura, dem Vater folgend.
Doch die Musik dominierte: Er schrieb sich in das private Musikkonservatorium
von José Berr ein und musizierte und komponierte für
das Theater und Kabarett, unter anderem für seine Freundin
Lale Andersen.
Erste Karriereschritte
Mit einem Marschlied von ihm – „Wir sind die internationale
Brigade“ – zogen die deutschen Freiwilligen 1936 in
den Spanischen Bürgerkrieg. 1937 belegte er die Dirigierkurse
von Hermann Scherchen in Budapest und wurde dessen Assistent beim
Musica-Viva-Orchester in Wien. Beide kehrten nach dem Anschluss Österreichs
in die Schweiz zurück. Liebermann schlug sich als Musiker
und Kritiker durch, gab Flüchtlingskindern Unterricht und
wurde zum Militärdienst eingezogen. Ab 1940 nahm er Kompositionsunterricht
beim Busoni-Schüler Wladimir Vogel in Ascona. Als Hermann
Scherchen 1945 die Leitung des deutsch-schweizerischen Radio-
senders Beromünster übernahm, machte er Rolf Liebermann
zu seinem Tonmeister beim Studio Zürich. Fünf Jahre später
wurde er Leiter der Musikabteilung und wechselte 1957 auf Empfehlung
und Drängen des Dirigenten Hans Schmidt-Isserstedt zum Norddeutschen
Rundfunk nach Hamburg, dessen Hauptabteilung für Musik er
innerhalb kürzester Zeit umkrempelte. So prägend, dass
ihn der damalige Bürgermeister Max Brauer abwarb, um ihm die
Intendanz der Staatsoper anzuvertrauen. Was dann 1959 begann, ist
deutsche Operngeschichte. Der Komponist
Bis dahin war der Name des Komponisten Rolf Liebermann bereits
international ein Begriff: Hermann Scherchen hatte 1947 Liebermanns
virtuoses Orchesterstück „Furioso“ in Darmstadt
uraufgeführt, 1954 spielten Hans Rosbaud und Kurt Edelhagen
in Donaueschingen erstmals – zum Erstaunen des dann jubelnden „modernen“ Publikums – das „Konzert
für Jazzband und Sinfonieorches-ter“; kurz danach setzte
Fritz Reiner in Chikago das Werk aufs Programm und nahm es für
die Schallplatte auf. Der Opernkomponist Liebermann hatte mit seinem
Freund Heinrich Strobel (Libretto) im Bunde, mit „Leonore
40/45“, einer deutsch-französischen Liebesgeschichte
während des Krieges, in der Grenzstadt Basel 1952 einen „völkerverständigenden
Uraufführungserfolg“. Die weiteren Inszenierungen in
Berlin und Mailand provozierten jedoch heftige Reaktionen: Für
dortige Gemüter kam dieser Stoff, sieben Jahre nach Kriegsende,
offensichtlich zu früh.
Nachdem sich Strobel und Liebermann von dieser Ablehnung erholt
hatten, begannen sie zwei neue Opern, deren Akzeptanz unmittelbar
erfolgte: „Penelope“, 1954 bei den Salzburger Festspielen
uraufgeführt, und „Die Schule der Frauen“ (nach
Molière), als Kurzoper 1955 in Louisville/USA, in der dreiaktigen
Fassung dann wieder in Salzburg mit großem Erfolg von Oskar
Fritz Schuh und Caspar Neher inszeniert und von George Szell dirigiert.
Besonders die „Schule
der Frauen“ wurde an vielen Opernhäusern Europas aufgeführt.
Auch von der Hamburgischen Staatsoper, bevor Rolf Liebermann ihr
Intendant wurde. Nach seiner Amtsübernahme setzte er seine
Oper vom Spielplan ab, mit der Begründung „dass von
ihm geleitete Institutionen nicht dafür da seien, seine Werke
zu spielen“.
Komponistenwerkstatt Hamburg
Rolf Liebermann konnte in Hamburg auf ein Repertoire von rund
30 stehenden Werken aufbauen, das von seinem Vorvorgänger Günther
Rennert klug konzipiert war und von den großen Opernklassikern
bis zu Alban Berg reichte. Günther Rennert stand – wie
Oscar Fritz Schuh, Wieland Wagner und Walter Felsenstein, die alle
im Liebermann-Haus inszenierten – dem alten Opernverständnis
kritisch gegenüber. Besonders diese vier machten ab den 1950er-Jahren
aus dem „Konzert in Kostümen“ Musiktheater. Und
Rolf Liebermann war als Opernintendant der prägende Initiator.
Er machte aus der Hamburger Oper eine Komponistenwerkstatt. In
14 Jahren ließ er 23 Opernuraufführungen auf die Bühne
bringen, davon 21 Auftragswerke. Darunter Kreationen wie: „Der
Prinz von Homburg“ (Hans-Werner Henze/Ingeborg Bachmann), „Der
goldene Bock“ (Ernst Krenek), „Der Zerrissene“ (Gottfried
von Einem), „Jacobowsky und der Oberst“ (Giselher Klebe), „Zwischenfälle
bei einer Notlandung“ (Boris Blacher), „Jakob Lenz“ (Wolfgang
Rihm), „The Visitation“ (Gunther Schuller), „Arden
muss sterben“ (Alexander Goehr), „Hilfe, Hilfe, die
Globolinks“ (Gian Carlo Menotti), „Die Teufel von Loudun“ (Krzysztof
Penderecki), „Der Belagerungszustand“ (Milko Kelemen), „Ein
Stern geht auf aus Jaakob“ (Paul Burkhard), „Staatstheater“ (Mauricio
Kagel) sowie Ballettkreationen nach Kompositionen von Karlheinz
Stockhausen, Luciano Berio, Olivier Messiaen, Iannis Xenakis, Lukas
Foss, Antonio Bibalo…
Die zeitgenössischen und modernen Opern und Ballette waren
fester Bestandteil eines ständigen Repertoires, das aus rund
70 Werken bestand, die alle in die Abonnement-Reihen integriert
waren. Liebermanns Rezept war eigentlich ganz einfach: Er ließ die
Renner von Mozart, Verdi, Puccini und Wagner spielen und gab Zeitgenössisches
in Auftrag. „Das ist eine reine Erziehungsfrage“, so
Liebermann später. „Ich habe drei bis vier Jahre gebraucht,
um die Leute daran zu gewöhnen. In das Repertoire habe ich
jedes Jahr zwei zeitgenössische Stücke geschmuggelt.
Manchmal waren sie etwas ungnädig, aber mit der Zeit haben
sie eingesehen: Der hat eben diesen Vogel.“ Dieser „Vogel“ hatte
seinen spektakulärsten Höhenflug wohl sicher in den 1964
von ihm organisierten zwei Wochen zeitgenössischen Musiktheaters,
bei denen Abend für Abend ein Werk des 20. Jahrhunderts aus
dem Repertoire der Hamburgischen Staatsoper zur Aufführung
gelangte, angereichert von einem Gastspiel der Stuttgarter Oper
mit Carl Orffs „Oedipus der Tyrann“. Alles vor vollen
Häusern. Abenteuer Opernfilm
Ein neues Aktionsfeld fand Rolf Liebermann im Bereich der gefilmten
Oper und des Opernfilms, deren Pionier er war. 15 seiner Staatsopernproduktionen
ließ er Ende der 1960er-Jahre in den Studios des Norddeutschen
Rundfunks nachbauen und filmte sie in Farbe und mit internationaler
Besetzung. 15 Jahre später, als Administrateur général
de l’Opéra de Paris hat er noch einmal, zusammen mit
dem Filmregisseur Joseph Losey, mit Lorin Maazel und mit Ruggero
Raimondi in der Titelrolle diesem Genre gehuldigt: Sein Opernfilm „Don
Giovanni“ hat Geschichte geschrieben.
Rolf Liebermann wurde mit der Zeit zu einem umworbenen Intendanten.
Er gab allen einen Korb – auch Wien und New York, um die
Hamburger Arbeit fortzusetzen; aber auch, um mit der latenten Gefahr
seines Weggangs das damals nicht sehr üppige Budget der Oper
an der Dammtorstraße zu verbessern und es dem Standard von
München und Berlin anzugleichen. Sein Hamburger Mandat ging
1973 zu Ende. Da er in dieser Zeit (fast) nicht mehr komponiert
hatte, wollte er hieran wieder anknüpfen. Doch dazu kam es
erst mal nicht.
Frankreich hatte ab 1969 mit Georges Pompidou einen Staatspräsidenten
mit einer ausgeprägten, modernen kulturellen Ambition. Der
desolate Zustand der Pariser Oper war ihm ein Dorn im Auge. Er
beauftragte seinen Kulturminister Jacques Duhamel mit einer Lösung
dieses Problems. Rolf Liebermann wurde sehr schnell ihr Wunschkandidat.
Wieder einmal trieb Liebermann die Neugier in ein Abenteuer.
Die Situation war paradox, genau das Gegenteil von der in Hamburg.
Galt hier die Kombination Ensemble und Avantgarde, so hieß es
in Paris Stagione und Museum. Die Hamburger Oper konnte er zur
modernsten der Welt machen, weil er sich auf ein demokratisch geführtes
und gut funktionierendes Haus mit großem Repertoire stützen
konnte. Das Gegenteil war in Paris der Fall: Es gab kein Repertoire,
er musste erst eines schaffen. Es gab keinen Produktionsrhythmus,
kein feststehendes Premieren- und Aufführungssoll.
Neue Aufgaben in Paris
Es gab viel Rückständiges zu regeln, weil das Pariser
Opernhaus vom Ursprung und der Geschichte her immer ein auf Glanz
und Repräsentation zugeschnittenes Unternehmen war, in dem
die Rolle des Publikums wichtiger war als das, was auf der Bühne
dargeboten wurde. Das Einzige, was gut funktionierte, war das Ballett,
diese große Tradition ist in der Pariser Oper lebendig geblieben. „Musikalisch
sind die Franzosen weniger geschult als die Deutschen – aber
Augen haben sie!“
In der weltoffenen Hansestadt Hamburg mit ihrer Bürgeroper
war Rolf Liebermann der Avantgardist unter den Opernintendanten.
In der kulinarischen Weltmetropole Paris musste er zum Reaktionär
werden, um überhaupt gewinnen zu können. Der „Reaktionär“ war
er allerdings nur nach außen. Er wusste genau, was er wollte
und wie er es umsetzen konnte.
Er begann, mit einer Reihe von Werken des klassischen und romantischen
Repertoires in meisterhaften Aufführungen das Vertrauen der
Stadt, des Hauses, des Publikums zu erwerben. Er besetzte mit internationalen
Stars, holte sich seinen langjährigen Freund Georg Solti als
musikalischen Berater. Er schaffte es nach zwei Spielzeiten, bereits
ein Repertoire von knapp zwanzig Werken zu etablieren und ein Abonnementsystem
mit mehreren Serien aufzulegen, ohne jegliche Ermäßigung,
das trotzdem immer in kürzester Zeit ausverkauft war. Das
Pariser Publikum war umgehend bereit, den Mehrpreis zu zahlen,
wenn Luciano Pavarotti, Plácido Domingo, Mirella Freni,
Nicolai Ghiaurov, José van Dam, Christa Ludwig oder Jon
Vickers sangen, in zum Teil epochalen neuen Inszenierungen von
Giorgio Strehler, Jorge Lavelli, Patrice Chéreau, Peter
Stein oder Terry Hands und mit Georg Solti, Georges Prêtre,
Michel Plasson, Pierre Boulez, Karl Böhm, Lorin Maazel oder
Seiji Ozawa am Pult. Den zahlreichen Kritikern seiner Nominierung
nahm er einigen Wind aus den Segeln, indem er große, französische
Interpreten integrierte: Gabriel Bacquier, Jules Bastin, Alain
Vanzo, Michel Sénéchal, Régine Crespin, Christiane
Eda-Pierre. Erleichtert waren Publikum und Nörgler außerdem
darüber, dass Rolf Liebermann dem weltweit anerkannten Ballett
der Pariser Oper weiterhin einen ganz wichtigen Platz zugestand.
Die Choreografen Jerome Robbins, George Balanchine, Merce Cunningham,
Carolyn Carlson, Rudolf Nurejew, Roland Petit gaben bereichernde
Impulse, die das herausragende Niveau dieser wunderbaren Compagnie
für die Zukunft sicherten.
Gegen Ende seines Pariser Mandats, das wegen politischer Querelen
immer penibler wurde, konnte Liebermann endlich auch an das zeitgenössische
Musikschaffen denken. Er vergab wieder Aufträge, aber nur
wenige waren noch möglich. So wurde der österreichische
Komponist und Musikwissenschaftler Friedrich Cerha beauftragt,
den fehlenden Schluss von Alban Bergs „Lulu“, auf der
Basis der vorhandenen Skizzen Bergs, nachzukomponieren. Das Bayreuther
Ring-Gespann Pierre Boulez/Patrice Chéreau sorgte 1979 damit
für einen internationalen Triumph, der von der Deutschen Grammophon
aufgezeichnet wurde. Ein weiterer Auftrag ging an Olivier Messiaen,
und es entstand die erst nach der Ära Liebermann uraufgeführte
szenische Meditation über Leben und Tod des „Saint François
d’Assise“. Zu einem Kompositionsauftrag an Henri Dutilleux
kam es leider nicht mehr.
Rolf Liebermann verließ nach einiger Zeit mit seiner Frau
Hélène Vida Paris und zog wieder nach Hamburg. Sein
Versuch, die frühere Wirkungsstätte 1985 vor einem Kollaps
zu bewahren, hatte wenig Erfolg: Senat und Stadt waren nicht mehr
dieselben wie zu seiner goldenen Zeit, und das Haus selbst war
in keinem guten Zustand. Peter Ruzicka und Gerd Albrecht – beide
Liebermann freundschaftlich verbunden – gelang es ab 1988,
der Hamburger Oper wieder ein künstlerisches Profil zu geben.
Wesentlich mehr Erfolg hatte Liebermann mit der Förderung
junger Sänger in Zusammenarbeit mit Christa Ludwig und dem
Salzburger Institut und seiner inspirierenden Leitung der dortigen
Sommerakademie.
Der wieder aktive Komponist wurde zum Vagabunden. Er zog „in
die Sonne“ nach Florenz, dem er aber nach kurzer Zeit wieder
den Rücken kehrte: Die faschistoiden Tendenzen der italienischen
Politik schreckten ihn ab. Die Liebermanns kehrten wieder nach
Paris zurück.
Kraftvolles Alterswerk
Nachdem sich Rolf Liebermann Ende der 1980er-Jahre von den Institutionen
des Musikbetriebes zurückgezogen hatte, stürzte er sich
noch einmal mit aller Kraft auf das Komponieren. Es entstand ein
bewundernswertes Alterswerk, das er mit großer Energie und
Inspiration vorantrieb. Man hatte den Eindruck, es hatte sich viel
in ihm angespeichert, das jetzt niedergeschrieben werden musste.
Die Oper „Freispruch für Medea“ – unter
der Leitung Gerd Albrechts und in der Regie Ruth Berghaus‘ an
seiner alten Wirkungsstätte in Hamburg uraufgeführt –,
das Orchesterwerk „Enigma“, ein Klavierkonzert, ein
Violinkonzert, Kammermusik.
Rolf Liebermann starb am 2. Januar 1999 in Paris. Die Gedenkfeiern
im Palais Garnier und in der Hamburger Oper machten deutlich, was
da einmal war! Der Regisseur Adolf Dresen brachte es auf den Punkt: „Er
war wohl der letzte ingeniöse Prinzipal in der Personalunion
von Theaterdirektor und Künstler, Pragmatiker und Utopist.“
Die
ungekürzte Fassung von Nikolas Kerkenraths Würdigung
ist nachzulesen unter www.nmz.de. Nikolas Kerkenrath
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