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Editorial

Man stelle sich die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Politik vor, wenn, sagen wir: der Deutsche Bühnenverein mitteilte, „anonyme Systemfehler“ hätten die Finanzkrise der Theater & Philharmonie Essen GmbH ausgelöst. Eine „Katastrophe“ sei ausgebrochen, gleich einem Tsunami, der dann Essen oder auch Chemnitz oder sonst irgendein Opernhaus mit defizitärem Etat zum Opfer gefallen sei.

   

Stefan Meuschel

 

Allenfalls als drittklassiges Kabarett oder dämliche Exkulpierungsversuche würden solche Verschleierungstheorien angesehen. Jedem kundigen Thebaner musste klar sein, dass der Essener Philharmonie-Intendant Michael Kaufmann nicht über – im Detail sogar umstrittene – Etat-Überziehungen stolpern sollte, sondern dass die nach dem Fortgang des bisherigen GmbH-Geschäftsführers Otmar Herren entstandene personelle Leitungsstruktur für einen eigenständigen und nach eigenen Erfolgen strebenden Kopf wie Kaufmann keinen Platz mehr hatte. Inzwischen hat die Stadt Essen den Co-Geschäftsführer des Festspielhauses Baden-Baden, den 47-jährigen Johannes Bultmann, zum neuen Intendanten der Philharmonie bestellt.

Die Essener Schmierenkomödie basiert erkennbar nicht auf einem „anonymen Systemfehler“, sondern sie hat Namen und Gesichter. Namen und Gesichter hat auch die globale Banken-, Börsen-, Wirtschaftskrise. Das arme Schwein, das sich in Arkansas beschwatzen ließ, eine Bruchbude auf Pump zu kaufen, deren Kreditsicherung in nichts anderem als in der Hoffnung auf steigende Immobilienpreise bestand, ist ebenso bekannt wie die dumme Sau in Münchens Bayerischer Landesbank, die es akzeptiert oder übersieht, dass ihre österreichische Tochter Hypo Group Alpe Adria ein millionenschweres Paket solcher Subprime-Papiere, wie die Hypotheken aus Arkansas mittlerweile genannt werden, in ihr Portfolio nimmt.

Doch während man in Essen eine Kündigung ausspricht und dann an einem Aufhebungsvertrag bastelt (wobei insgesamt rund drei Millionen Euro an Defizit und Abfindung auf dem Tisch liegen), bleibt man bei den Landesbanken und den vergleichbaren anderen Instituten, bei denen es um -zig Milliarden geht, geflissentlich anonym. Die Aufsicht, in ihr die Spitzen der jeweiligen Parlamente und Landesregierungen vertreten, die Spitzen auch der kommunalen Sparkassen und der einschlägigen Ministerien, darüber das gestrenge Regiment der Bafin – sie alle haben nichts gesehen, nichts gehört, jedenfalls Vernehmliches nicht gesagt. Die Firmenflagge der künftig vereinten Landesbanken sollten die sprichwörtlichen drei Affen zieren.

Sich hinter dem „anonymen Systemfehler“ oder dem „globalen Trend“ zu verschanzen, verhindert auch jede Suche nach Verantwortlichen, hebelt also jegliches Haftungs-, Schuld- und Strafrecht aus. Das Erstaunlichste an dieser Camouflage ist, dass der Überbringer der Botschaft vom anonymen Systemfehler in Essens Theater & Philharmonie ausgelacht würde, dass der entsprechende Bote aus Bank oder Börse aber als Magier des kreditfinanzierten Wachstums und Großer Deregulator angebetet würde.

Uns allen ein erträgliches Neues Jahr.

Ihr Stefan Meuschel

 

 

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