Man stelle sich die Reaktionen der Öffentlichkeit und der
Politik vor, wenn, sagen wir: der Deutsche Bühnenverein mitteilte, „anonyme
Systemfehler“ hätten die Finanzkrise der Theater & Philharmonie
Essen GmbH ausgelöst. Eine „Katastrophe“ sei ausgebrochen,
gleich einem Tsunami, der dann Essen oder auch Chemnitz oder sonst
irgendein Opernhaus mit defizitärem Etat zum Opfer gefallen
sei.
Allenfalls als drittklassiges Kabarett oder dämliche Exkulpierungsversuche
würden solche Verschleierungstheorien angesehen. Jedem kundigen
Thebaner musste klar sein, dass der Essener Philharmonie-Intendant
Michael Kaufmann nicht über – im Detail sogar umstrittene – Etat-Überziehungen
stolpern sollte, sondern dass die nach dem Fortgang des bisherigen
GmbH-Geschäftsführers Otmar Herren entstandene personelle
Leitungsstruktur für einen eigenständigen und nach eigenen
Erfolgen strebenden Kopf wie Kaufmann keinen Platz mehr hatte.
Inzwischen hat die Stadt Essen den Co-Geschäftsführer
des Festspielhauses Baden-Baden, den 47-jährigen Johannes
Bultmann, zum neuen Intendanten der Philharmonie bestellt. Die Essener Schmierenkomödie basiert erkennbar nicht auf einem „anonymen
Systemfehler“, sondern sie hat Namen und Gesichter. Namen
und Gesichter hat auch die globale Banken-, Börsen-, Wirtschaftskrise.
Das arme Schwein, das sich in Arkansas beschwatzen ließ,
eine Bruchbude auf Pump zu kaufen, deren Kreditsicherung in nichts
anderem als in der Hoffnung auf steigende Immobilienpreise bestand,
ist ebenso bekannt wie die dumme Sau in Münchens Bayerischer
Landesbank, die es akzeptiert oder übersieht, dass ihre österreichische
Tochter Hypo Group Alpe Adria ein millionenschweres Paket solcher
Subprime-Papiere, wie die Hypotheken aus Arkansas mittlerweile
genannt werden, in ihr Portfolio nimmt.
Doch während man in Essen eine Kündigung ausspricht und
dann an einem Aufhebungsvertrag bastelt (wobei insgesamt rund drei
Millionen Euro an Defizit und Abfindung auf dem Tisch liegen),
bleibt man bei den Landesbanken und den vergleichbaren anderen
Instituten, bei denen es um -zig Milliarden geht, geflissentlich
anonym. Die Aufsicht, in ihr die Spitzen der jeweiligen Parlamente
und Landesregierungen vertreten, die Spitzen auch der kommunalen
Sparkassen und der einschlägigen Ministerien, darüber
das gestrenge Regiment der Bafin – sie alle haben nichts
gesehen, nichts gehört, jedenfalls Vernehmliches nicht gesagt.
Die Firmenflagge der künftig vereinten Landesbanken sollten
die sprichwörtlichen drei Affen zieren.
Sich hinter dem „anonymen Systemfehler“ oder dem „globalen
Trend“ zu verschanzen, verhindert auch jede Suche nach Verantwortlichen,
hebelt also jegliches Haftungs-, Schuld- und Strafrecht aus. Das
Erstaunlichste an dieser Camouflage ist, dass der Überbringer
der Botschaft vom anonymen Systemfehler in Essens Theater & Philharmonie
ausgelacht würde, dass der entsprechende Bote aus Bank oder
Börse aber als Magier des kreditfinanzierten Wachstums und
Großer Deregulator angebetet würde.
Uns allen ein erträgliches Neues Jahr.
Ihr Stefan Meuschel
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