|
Dienst und Herrschaft
Über das Verhältnis von Tanz und Musik · Von
Malve Gradinger
Klassisches Ballett zu Rock und Pop. Modern Dance zu Geräuschkulisse,
aber ebenso gut zu Barockmusik. Zeitgenössischer freier Tanz
zu Afro-Percussion, zu gesprochenen Texten oder auch zu Kantaten.
Eigenwillig locker – für’s Empfinden so manchen
Musikliebhabers auch respektlos – werden die beiden Künste
zusammengeworfen. Erlaubt ist, was gefällt. Heute!
Angefangen hat es ganz anders – wenn man nur einmal zurückgeht
bis zum offiziellen Beginn der „danse d’école“
im 17. Jahrhundert. Louis XIV., besessen von Musik und Tanz, legte
mit seiner „Académie Royale de la Danse“ 1661
und zehn Jahre danach mit der Nachfolgeinstitution, der „Académie
Royale de Musique“ – der späteren Pariser Opéra
– den Grundstein für eine innig verflochtene Musik-Tanz-Tradition.
Denn woher kamen die Partituren zu all den „ballets de cour“,
prächtige Großinszenierungen, in denen zunächst
nur die Adeligen auftraten? Zum guten Teil aus der Feder des Italieners
Jean-Baptiste Lully. Als Tänzer und Violinist war er an den
französischen Hof gekommen und über den Posten des Kammerdieners
von Louise d’Orléans 1671 zum Direktor der A. R. d.
M. avanciert. Eines seiner repräsentativsten Ballette, das
er zum Teil selbst choreografierte, ist das 13 Stunden dauernde
„ballet de la nuit“ von 1653, in dem Ludwig XIV. als
Sonnenkönig auftrat – eine Rolle, die ihm bekanntlich
den Titel „Le roi soleil“ einbrachte.
Musik für den Tanz
Auch in den folgenden beiden Jahrhunderten wurde den Balletten
Musik zukomponiert. Manchmal so erfolgreich wie bei dem klassisch-romantischen
„Giselle“-Ballett (1841) von Jean Coralli und Jules
Perrot. Jedenfalls ist Adolphe Adams Partitur viel weniger reine
„Ballettgebrauchsmusik“ als sie viele Komponisten auf
Wunsch und Bestellung des Choreografen zu liefern hatten.
Ein überaus fleißiger Ballettkomponist war der Italiener
Cesare Pugni (1802 – 1870) mit 312 (!) Balletten, die erfolgreichsten
davon geschrieben für Jules Perrot, Arthur Saint-Léon,
Joseph Mazilier („Le Corsaire“) und Marius Petipa. Prominenter
Musik-Zulieferer war auch der Däne Hans Christian Lumbye, der
viel für seinen Landsmann August Bournonville, den berühmten
Begründer der „dänischen Schule“ komponierte.
Weltweit bekannt sind auch heute noch, wenngleich von E-Musikliebhabern
nicht goutiert, der Italiener Riccardo Drigo (1846 – 1930)
und der Österreicher Ludwig Minkus (1826 – 1917), weil
sie viel für den großen Petipa schrieben. Petipas „Don
Quijote“ (1869) und „La Bayadère“ (1877)
von Minkus, offizieller Ballettkomponist am Moskauer Bolschoi-Theater
(1864 – 71) und am St. Petersburger Marien-Theater (1872 –86),
wo Petipa als choreografisches Genie „herrschte“, sind
noch heute Klassiker auf den Ballettbühnen der ganzen Welt.
Fruchtbare Kooperation
Ein großer Glücksfall für Petipa, und damit für
das klassische Ballett schlechthin, war dann die fruchtbare Zusammenarbeit
mit Tschaikowsky für „Dornröschen“, „Nussknacker“
und „Schwanensee“, entstanden zwischen 1890 und 1895.
Danach mit Alexander Glasunow, unter anderem für „Raymonda“
(1898). Zwei große Künstler, die nicht nur kompositorische
Maßschneiderei lieferten – auch wenn Petipa ihnen genaue
Vorgaben machte. Der Komponist kannte das Libretto, hatte durch
Petipas musikalisch-szenische Pläne genaue Angaben über
Tempo, Atmosphäre, über den erwünschten Charakter
der Musik in den verschiedenen Handlungsmomenten. Sogar die Anzahl
von Takten für Tanzfiguren – „pirouette“,
„bourrée“ et cetera, für die Ensemble-Tänze,
für die Coda und so weiter war bereits festgelegt. So notierte
Petipa für die Nr. 15 im ersten Bild von „Dornröschen“:
„3/4 Bewegung, fröhlich, und sehr gesanglich. Wenn der
Dreiviertel-Takt beginnt, ergreift Aurora die Spindel, die sie wie
ein Zepter schwingt – 32 Takte. Doch plötzlich (Pause)
Schmerz! Blut fließt! 8 Takte Vier-Viertel, Largo.“
Auf diese minutiös vordurchdachte Weise sind „Dornröschen“
und alle seine anderen Ballette gleich im Entwurf auch bereits musikalisch
durchgeplant.
Mit den Komponisten, die natürlich selbst auch Vorschläge
machten, stand Petipa in ständigem Arbeitaustausch, wie sein
reger Briefwechsel mit ihnen belegt. So schreibt er im Juni 1896
wegen des „Raymonda“-Balletts: „Hochverehrter
Monsieur Glasunow! Ich schicke Ihnen zwei Szenarien: eines von Lydia
Paschkowa und das andere von Monsieur Wsewoloshski. Ich teile Ihnen
mit, dass ich Veränderungen in der Entwicklung des Sujets vornehmen
werde, und deshalb wird es notwendig sein, dass wir in St. Petersburg
zusammentreffen, um uns mit dem Herrn Direktor zu einigen. Ihr ergebener
Marius.“ (Marius Petipa, Meister des klassischen Balletts,
Hg. Eberhard Rebling, Heinrichhofens Verlag, Wilhelmshaven).
Zwischen dem Choreografen und dem Komponisten flossen ständig
Informationen. Der eine inspirierte den anderen. Ein entstehendes
Ballett war stets das gemeinsame Werk zweier Künstler. Die
Tatsache, dass die Tschaikowsky-Petipa-Ballette heute die Juwelen
im klassischen Repertoire sind, beweist hinlänglich, dass ein
solches gegenseitiges Zuarbeiten zu bleibenden künstlerischen
Ergebnissen führt.
Tanz zur Musik
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Art von enger künstlerischer
Kooperation jedoch durch neue Sichtweisen weitgehend von anderen
Strategien verdrängt. Veränderungen, Reformen lagen in
der Luft. Mikhail Fokine (1880 – 1942), Erster Solist des
St. Petersburger Marien-Theaters, der sich, in Auflehnung gegen
das (für ihn starre) klassische Ballett Petipas, zu einem der
wichtigsten Ballett-Reformer entwickeln sollte, war einer der ersten,
der zu schon vorhandenen klassischen Musiken choreografierte: „Les
Sylphides“ zu Chopin, das berühmte Solo „Der sterbende
Schwan“ zu Saint-Saens, „Le spectre de la rose“
zu Carl-Maria von Weber, Strawinskys „Feuervogel“, um
nur die heute noch meist getanzten Meisterwerke zu nennen. Sein
Ziel war es, weg von den traditionellen abstrakten Divertissements
– die den Handlungsablauf in einem Petipa-Ballett ja tatsächlich
unterbrechen –, zu einer größeren dramatischen
Einheit zu gelangen. Offensichtlich erschien ihm dazu eine klassische
Komposition der geeignetere musikalische Partner. Bestärkt
in seinen Reformbestrebungen, vielleicht sogar ursprünglich
inspiriert wurde Fokine von Isadora Duncan, die er anlässlich
ihres ersten Russland-Gastspiels 1904 erlebt hatte. Duncan tanzte
ihre barfüßigen frei fließenden Solo-Choreografien
ganz revolutionär zu Chopin, Bach, Mozart und Beethoven.
In diesem Moment der Ballett- und Tanzgeschichte war das ein Befreiungsakt
– ähnlich dem Abwerfen des Spitzenschuhs. Auch eine Aufwertung.
So viele gute Komponisten gab es gar nicht, die für Ballett
und den jetzt aufblühenden modernen Tanz schreiben wollten.
Ein auch noch heute bedauernswerter Tatbestand. Und so wagten immer
mehr Tanzschöpfer den Griff zu großen klassischen Musiken.
Man war ja auf Erfolgskurs: sowohl das sich durch Fokine, dann durch
Vaslaw Nijinsky und seine Schwester Bronislawa, nicht zuletzt auch
Dank des großen Impresarios Serge Diaghilew grundlegend erneuernde
klassische Ballett, als auch der US-Modern-Dance und der deutsche
Ausdruckstanz. Für ihren neuen, dramatisch wahrhaftigen Ausdruck,
der die alte erzählerische Pantomime ersetzte, für Duncans
vom Korsett befreites natürliches Körpergefühl, für
all diese neuen Bewegungen und Dramaturgien brauchte man auch eine
Auswahl an atmosphärisch und stilistisch vielfältigen
musikalischen Möglichkeiten.
Vermischung der Stile
Mit der weiteren Entwicklung des Tanzes, und natürlich auch
der Musik, haben sich weitere Varianten des Zusammenspiels zwischen
diesen beiden Künsten ergeben. Auch die Abgrenzung zwischen
E- und U-Musik war für den Tanz bald nicht mehr maßgebend.
George Balanchine, gebürtiger St. Petersburger, der 1934 von
Lincoln Kirstein nach New York geholt wurde, ließ zu Jazz-Musiken
tanzen. Und seine Fortschreibung von Petipas Klassik in die Neoklassik
wurde beeinflusst von den Jazztanz-Elementen, die er in sein Vokabular
aufnahm. Hüften wurden schräg ausgestellt, Arabesken schräg
aus der Senkrechten gekippt. Fußpositionen nicht mehr in strenger
klassischer Position geschlossen.
In dem Maße, wie andere, noch freiere Bewegungen im Tanz
Eingang fanden – entliehen aus dem Sport, der Akrobatik, den
martialischen Künsten Capoeira und Tai Chi –, wurde auch
die Musikwahl immer gewagter. Jazz, Rock, Schlager, Schlagwerke,
alle Arten von Geräuschen – alles war legitim. Mit den
elektronisch erzeugten Musiken, mit den komplexen Möglichkeiten
des Synthesizers waren dem Choreografen schließlich noch mehr
Spielarten an die Hand gegeben: Verschnitte, Montagen, Überlagerungen
von klassischen und poppigen Musiken, das Zerschlagen, Verzerren,
Verfremden von Originalkompositionen, das Untermischen von Alltagsgeräuschen.
Musik war nun für die Fortschrittlichen schon lange nicht mehr
Taktgeber für den Tanz noch melodischer Klangteppich. Alle
diese musikdramaturgischen Verfahren dienten der Entmystifizierung
der Konvention des „schönen Tanzens zu schöner Musik“,
sollten schockieren, vor allem auch die Realität in den Tanz
hineinholen. Das Ballett der abgehobenen Märchenwelt war damit
ins Museum befördert.
In Russland, dem Land, in dem das Märchenballett seine größten
Triumphe feierte, formulierte diesen Wandel schon sehr früh
der russische Ballettmeister und Regisseur Nikolai Michailowitsch
Foregger (1892 – 1939), geprägt natürlich durch
marxistisch-kommunistische Ideologie: „Die Musen sind Fabrikarbeiter
geworden und haben sich den Gewerkschaften eingegliedert. Ihre Begegnungsstätte
ist nicht länger der Olymp, sondern der Zentralsowjet der Gewerkschaften.
Unser Leben schafft sich seine Tänze der Gehsteige, der rasenden
Autos, der Exaktheit der Maschinenarbeit, der Geschwindigkeit der
heutigen Masse, der Erhabenheit der ,Wolkenkratzer’“
(Koegler, Reclam, S. 160).
Neue Arbeitsstrukturen
Eine echte Revolution in der Musik- und Tanzgeschichte lösten
die Choreografen John Cage und Merce Cunningham aus. Zusammen entwickelten
sie schon Ende der 40er-Jahre ein Konzept, das den Tanz aus dem
taktgehorsamen Dienst an der Musik befreite. Tanz, Musik und Dekor
sollen in einer ganz demokratischen Sichtweise als jeweils eigenständige
Künste zusammentreffen. In einem Interview anlässlich
des Münchner Festivals „Dance 2002“ erklärte
Cunningham noch einmal genau, wie er mit seinem „musical director“
gearbeitet hat. „Als wir anfingen zusammen zu arbeiten, choreografierte
ich Solotänze. John Cage kam dann mit dem Vorschlag, nicht
unbedingt etwas explizit für meinen Tanz zu schreiben. Das
hätte nämlich wieder bedeutet: Warten, bis ich Sequenzen
fertig hätte, um dann, meinen „counts“ entsprechend,
die Musik zu komponieren. Und seine neue Prämisse war, wie
ich fand, eine sehr intelligente. John hatte bereits in beide Richtungen
gearbeitet: er hatte für Tanz komponiert. Und fertige Musik
von ihm war vertanzt worden. Er empfand beide Verfahrensweisen als
falsch. Weil das eine im Dienst – er sagte ,Sklaverei’
– des anderen stand. Und so entwickelten wir ganz zu Beginn
das Arbeiten innerhalb einer Zeitstruktur, ganz einfach erklärt:
Man einigte sich etwa auf ein Grundmuster von zehn Schlägen.
Das Tempo hier mal beiseite gelassen. Der Tanz konnte, wie es damals
hieß, eine ,Quadrat-Wurzel-Struktur’ haben, der Tanz
und die Musik also eine ,zehn mal zehn’-Struktur. Okay: das
wäre Struktur-Punkt ,eins zu zehn’. Ursprünglich
haben wir also ganz offensichtlich gemeinsam angefangen bei eins.
Wir brauchten uns aber nicht vor dem ersten ,Struktur-Punkt’
zu treffen. Dann wieder am nächsten. Und so weiter.
Nachdem wir uns über die Zeitstruktur geeinigt hatten, komponierte
er ein Stück für Klavier. Und ich habe alleine im Studio
an meinem Solo gearbeitet, eben zu der vereinbarten Struktur. Manchmal
haben wir uns erst ganz am Ende getroffen, konnten aber, wenn wir
wollten, uns auch vorher treffen. In den Zwischenzeiten war keiner
verpflichtet, unbedingt den anderen zu stützen. Und diese Vorgehensweise
entsprach mir unmittelbar. Es war natürlich äußerst
schwierig, nicht mehr diese Stütze von der Musik zu bekommen.
Aber gleichzeitig war es so faszinierend. Und von da an haben wir
das System ausgebaut. Und heute hören wir die Musik erst am
Tag oder sogar erst am Abend der Premiere. Auf diese Weise wurden
die Tänzer für einen solchen Prozess sensibilisiert. Diese
Arbeitsmethode hat sie für Erfahrungen geöffnet.“
Experimentelles
Die Cage-Cunningham-Methode wurde für experimentell gestimmte
Choreografen richtungsweisend. William Forsythe, international renommierter
Choreograf und seit 19 Jahren Frankfurts Ballettchef (der 2004 die
Bankenstadt wegen deren maroder Finanzlage verlässt), ließ
zwar in seinen postmodern-neoklassischen Balletten noch „auf
die Musik“ tanzen. Aber in seinen experimentellen Stücken
brachte er schon in den 80er-Jahren Bewegung, Musik und Text zusammen
mit dem Ziel, durch eben dieses nicht vorher abgestimmte Zusammentreffen
etwas neues Spannendes entstehen zu lassen. Wie Cunningham arbeitet
er mit aleatorischen Techniken, überlässt es dem Computer,
wann welche Sequenz zu welcher Musik getanzt wird. Ein solches Vorgehen
vermeidet choreografische Routine, produziert Kombinationsmöglichkeiten,
auf die der Choreograf ohne dieses Hilfsmittel nicht gekommen wäre.
Traditionelleres
Aber es gibt natürlich immer noch Choreografen, für die
Musik Hauptinspiration und Ausgangspunkt ihrer Arbeit bleibt. Dazu
gehört der Leipziger Ballettchef Uwe Scholz, der am besten
in seinen sinfonischen Balletten ist. Und auch John Neumeier ist
ein ausgesprochener „Musik-Choreograf“, auch wenn die
Inspirationen variieren: „Mal ist es eine Musik, mal sind
es menschliche Erlebnisse, mal literarische Eindrücke, die
manchmal fast realer sind als das, was man erlebt. In dem Moment,
wo ich im Ballettsaal zu arbeiten beginne, ist die Musik das Wichtigste.
Was mich betrifft, so arbeite ich eher traditionell, nehme eine
Musik, die mich inspiriert. Ich mag da eine Pause länger machen,
wiederhole vielleicht, streiche etwas oder füge ein anderes
Stück dazu. Etwas total Ausgefallenes habe ich jedoch nie mit
Musik gemacht. Ich habe existierende Musiken verwendet oder Musik
bei einem Komponisten bestellt. Experimente, wie sie Cage und Cunningham
gemacht haben, danach hatte ich nie ein Verlangen. Durch die richtige
Wahl der Musik wird in mir eine Bewegungsidee ausgelöst, und
das brauche ich. Manchmal ersetze ich jedoch ein Musikstück
durch ein anderes. Dann nämlich, wenn ich choreografisch mit
einer Musik nicht weiterkomme. Ich finde sie schön, aber in
dem bestimmten Augenblick kann ich sie nicht choreografieren. Weiter
gehen meine Experimente nicht. Ich bin kein Avantgardist.“
(Interview Gradinger/Neumeier 1996, Hamburg).
Malve
Gradinger
|