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Tanz- und Zeitgeschichte
Eine Kurt Jooss-Biografie · Von Malve Gradinger
Patricia
Stöckemann: „Etwas ganz Neues muss nun entstehen –
Kurt Jooss und das Tanztheater“, hg. vom Deutschen Tanzarchiv
Köln/SK Stiftung Kultur, Verlag K. Kieser München, 2002,
478 S., zahlreiche Abbildungen, 25 Euro.
Hätte es in den 30er-Jahren schon Fernsehen und Medien-Promotion
gegeben, dann wäre Kurt Jooss damals mindestens so bekannt
gewesen, wie die Tanztheaterfrau Pina Bausch heute einer breiten
Öffentlichkeit ein Begriff ist. Sein Ballett „Der Grüne
Tisch“, 1932 in Paris preisgekrönt, ist, das sei zugegeben,
als exquisites Antikriegs-Ballett weltberühmt geworden. Aber
nur Insider wissen, dass Pina Bausch bei Kurt Jooss an der Essener
Folkwang Hochschule studierte und dass das deutsche Tanztheater
eigentlich schon mit der Arbeit dieses wichtigen Choreografen beginnt.
Erst jetzt, 33 Jahre nach seinem tödlichen Autounfall im Mai
1979, legt die Tanzwissenschaftlerin Patricia Stöckemann die
erste Jooss-Biografie vor.
Nach achtjähriger Quellenforschung (Jooss-Archiv, Amsterdam),
durch Gespräche unter anderem mit Tänzern von Jooss’
Folkwang Ballett der 50er- und 60er-Jahre wie Reinhild Hoffmann,
Jean Cébron, Günter Pick (langjähriger Ballettchef
am Münchner Gärtnerplatztheater), aber auch solchen der
ersten Stunde wie Noelle de Mosa, Ulla Söderbaum, Hans Züllig
(der später prägender Folkwangschul-Pädagoge war),
durch Schilderungen der Tochter Anna Markard, Assistentin ihres
Vaters, wie auch ihrer Schwester und ihres Bruders, ergeben die
über 400 Seiten eine wohltuend klare, durch uneitlen Stil flüssig
aufnehmbare, in Teilen regelrecht spannende Lektüre.
Joossens Arbeit ist ja nicht nur wichtige Tanzgeschichte, sondern
zugleich, speziell durch seinen Antifaschismus, auch brisante Zeitgeschichte.
Ausführlich behandelt denn auch Stöckemann die rasanten
politischen Veränderungen nach Hitlers Machtübernahme
im Januar 1933, mit Essen als eifrigstem antisemitischem Gefolgsterritorium
(„Als erste Großstadt des Reiches benennt Essen einen
Platz nach Hitler“) und Joossens Exil von 1934 bis 1939 in
der englischen Reformsiedlung Dartington. Wegen seines Pianisten
Fritz Cohen, der jüdischen Tänzer Ruth Harris und Heinz
Rosen (unter anderem von1959-69 Ballettdirektor an der Bayerischen
Staatstoper) hatte Jooss sich entschlossen, die Einladung der Dartington-Gründer,
des Ehepaares Elmhirst anzunehmen. Wenn es einerseits auch bitter
für ihn war, seine Tanzabteilung an der Essener Folkwang-Schule
– die mit den schnell bestallten Jooss-Nachfolgern (ab 1934
Albrecht Knust als Leiter der „Fachschule für Tanz“
mit Rudolf von Laban an der Spitze der Tanzabteilung, ab 1935 die
Jooss-Schülerin Trude Pohl) dann anpasserisch („die Bewegungschöre“!)
„auf NS-Kurs“ geht – zurückzulassen, erfüllt
sich für Jooss mit Dartington im Grunde ein Traum. Denn der
Sohn von musisch interessierten Eltern hatte schon immer mit dem
Gedanken gespielt, auf dem väterlichen Gut im württembergischen
Wasseralfingen eine Kunstschule zu etablieren.
Von der frühen kindlichen Inspiration zu tanzen – mit
zehn Jahren führt Jooss seinen ersten selbst entworfenen Tanz
„Indisches Gebet“ im selbst kreierten Exotik-Kostüm
Verwandten und Freunden vor – bis zu seinem Tod verfolgt Stöckemann
dieses künstlerisch reiche, erfüllte, aber auch mit vielen
Hindernissen gepflasterte Leben. Alle Stationen kommen eindringlich
zu Wort: das Studium bei dem Bewegungsphilosophen Rudolf von Laban,
die Begegnung mit Sigurd Leeder, Tanz- und jahrelang auch Lebenspartner
von Jooss. Die Gründung der Neuen Tanzbühne in Münster
mit Leeder, mit der estländischen Tänzerin Aino Siimola
– die 1929 seine Frau wird, dann Mutter seiner drei Kinder,
obendrein beruflich stets rechte Hand –, mit Fritz Cohen und
dem Bühnenbildner Hein Heckroth.
Und durchgehend, im kulturpolitischen Umfeld gesehen, die Klassik-Modern-Antagonismen
und Konfrontationen inclusive: von der Leitung der Tanzabteilung
an der Essener Folkwangschule ab 1927, der Gründung des Folkwang-Tanz-Theaters
schon 1928 bis zu den weltweiten Tourneen, der Arbeit in Dartington,
der Rückkehr nach Deutschland 1949 mit Neuaufbau der Folkwang-Schule
und seiner Compagnie und den Erfolgen bei den Schwetzinger Festspielen
mit Inszenierungen von Barockopern ab 1959.
Überhaupt würdigt Stöckemann das geradezu leidenschaftliche
Interesse des Choreografen am Musiktheater. Es mögen zum Teil
diese damals von Jooss schon bewusst aus Handlungsverlauf und musikalischer
Gesamtregie heraus erarbeiteten Tanzeinlagen in Opern und Operetten
(für Jooss keine „lästige Pflichtübung“)
Lernprozesse gewesen sein, die den Tanz für das Theater, für
das Schauspielerische öffneten.
Und eingehend wird in seiner Biografie dokumentiert – per
Werkanalysen und reicher Bebilderung seiner vier, dank Anna Markwards
Einstudierungen noch weltweit getanzten Ballette „Der Grüne
Tisch“, „Pavane“ (1929), „Ball in Alt-Wien“
und „Großstadt“, aber auch nicht mehr erhaltener
Werke –, dass Jooss, anders als die Ausdruckstänzer,
immer beides kombinieren wollte: den klassischen Tanz als immer
wieder fruchtbaren Formgeber und den freien Tanz als Forschungsfeld,
als Schatzgrube für neue Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.
Malve
Gradinger
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