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Realität und Fiktion
Uraufführung von Tüürs Wallenberg
in Dortmund · Von Guido Fischer
Spätestens seit Glasnost und Perestroijka hat der ungezwungene
Umgang mit der Moderne auch unter den baltischen Komponisten Hochkonjunktur.
Meditative Klangsinnlichkeit (Arvo Pärt) und die neo-romantische
Neudeutung von Volksmusik (Peteris Vasks) bilden dabei eine oft
von Reibungspunkten befreite Tonsprache, die kaum mit Atonalem liebäugelt.
Verglichen damit ist der aus Estland stammende Erkki-Sven Tüür
(Jahrgang 1959) ein anderes Kaliber. In seinem Werkkatalog, der
in den letzten Jahren fast Rihmsche Ausmaße angenommen
hat, präsentiert er sich als substanzreicher Wanderer zwischen
Minimalismus, Serialismus und Rock-Musik; zwischen ausladenden Oratorien
und strengen Kammermusik-Konzentraten. In den Verdacht, einer dieser
postmodernen Polystilisten zu sein, gerät Tüür schon
deswegen nicht, weil seine Offenheit für Form- und Klangdispositionen
unkalkulierbar ist. Von einer nicht zu erwartenden musiktheatralischen
Radikalität zeigte sich nun Tüürs erste, am Dortmunder
Opernhaus uraufgeführte Oper Wallenberg, die der
scheidende Intendant John Dew in Auftrag gegeben hatte. Das Philharmonische
Orchester unter Dirigent Alexander Rumpf musste Schwerstarbeit leisten.
Denn in dem düster-expressiven Tonfall, der im ersten Akt in
einer apotheotischen Aggressivität kulminiert, sind Erholungspausen
rar, verschwinden die fein eingewobenen Walzer- und Ländler-Zitate,
die idyllischen Dur-Harmonien so schnell, wie sie gekommen sind.
Stattdessen gibt es schwergewichtige Attacken, besonders in den
Blechbläsern und im Schlagzeug, was im zweiten Akt in groteske
Rasanz umschlägt, wie sie vor über einem halben Jahrhundert
Schostakowitsch markierte. So hochkomplex, bisweilen überdimensional
sich Tüürs Partitur in den über zwei Stunden bewegt,
so erstaunlich theaterpraktikabel ist sie jedoch für die Opern-Biografie,
die Librettist Lutz Hübner zum Wechselspiel aus geschichtlicher
Realität und Fiktion machte. Lutz Hübner erinnert an den
schwedischen Geschäftsmann und Diplomaten Raoul Wallenberg,
der auf Empfehlung des schwedischen Verbandes des World Jewish Congress
und unterstützt vom amerikanischen War Refugee Board im Juli
1944 vom schwedischen Außenministerium nach Budapest geschickt
worden war. Dort leitete er eine Hilfsaktion für über
100.000 Juden, die nach der Deportation von 437.000 ungarischen
Juden nach Auschwitz in der ungarischen Hauptstadt zurückgeblieben
waren. Wallenberg verteilte dabei schwedische Schutzpässe,
richtete Krankenhäuser ein und verhandelte auf deutscher Seite
unter anderem mit Adolf Eichmann. Als Budapest von der Roten Armee
besetzt wird, verlieren sich Wallenbergs Spuren nach 1945 im sowjetischen
Gulag.
Doch Hübner zeichnet nicht nur die historische Gestalt Wallenberg
nach. Er imaginiert zudem einen zweiten Wallenberg, der Balsam für
die Mythenschreibung ist: als strahlender Held, der zum Gewissen
entlastenden Feigenblatt wird für die Schweden, die
Geschäfte mit den Nazis machten, für die Amerikaner, die
Flüchtlinge zurück in den Tod schickten. Auf der kafkaesk
angereicherten Szene (Bühne: Peter Schulz) mit ihren riesigen,
verschiebbaren Wänden und tausenden weißschimmernden
Aktenordnern choreografiert Regisseur Philipp Kochheim schrille
Geschichtsschreibung moderner Prägung, in der Wallenberg mediengerecht
ausgeschlachtet wird. Mal als Filmfigur, mal als Talkshow-Gast,
dem Ronald Reagan die amerikanische Ehrenbürgerschaft verleiht.
Höhepunkt ist eine grelle Wallenberg-Revue unterm knallpink
eingefärbten Hakenkreuz aus Glühbirnchen, mit Hitler,
Himmler und Göring als Panoptikumsfiguren. Der Mensch Wallenberg
ist tot, verwertet von der Mythenfabrik Hollywood und vom Dew-Adepten
Kochheim plakativ inszeniert.
Gerade in dieser Entertainment-Spirale bewies Tüürs Musik
Rückgrat, da sie die Szenen nicht kommentierend bedient, sondern
Gegenkräfte in stark emotionalen Momentaufnahmen entwickelt.
Vor allem dank der flatternden Melodiefetzen, die den tenoralen
Glanz von Hannes Brock als Wallenberg 2 perforieren und von dem
phantastischen Bariton Hannu Niemelä als eigentlicher Wallenberg
zu einem ständig lodernden Psychogramm konturiert werden. Leider
war Niemelä auch der einzige in einem stimmlich gut besetzten
Ensemble, dessen Textverständlichkeit vorbildlich war. Deshalb
sollte die Regie in den nächsten Vorstellungen die Übertitel
sofort einblenden und nicht erst nach der Pause. Obwohl der leichte
Lehrstück-Ton des Textes, den Hübner hierfür recycelt
hat, an Tüürs risikofreudige Musiksprache nicht heranreicht.
Guido Fischer
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