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Aber Alberich lebt
Hans Mayers Dankrede zur Verleihung des Wilhelm Pitz-Preises
Richard Wagners Ring-Tetralogie scheint zum Renner der Jahre um
die Jahrtausendwende zu werden; nicht nur fast alle großen
Häuser (so Stuttgart, s. S. 7) haben sie auf dem Spielplan,
sondern auch mittlere (so Chemnitz, s. S. 9) stemmten und stemmen
sie unter bewundernswerter Aufbietung aller Kräfte und mit
erstaunlichen Ergebnissen auf die Bühne. Und auch das junge
Opernpublikum drängt sich an den Kassen. Was erwartet es von
Wagner?
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer hat sich sein Leben lang
mit Wagner befasst. Seit 1955 ist er auch ein aus der Entwicklung
der Neu-Bayreuther Wagner-Festspiele schwerlich hinwegzudenkender
dramaturgischer Berater. Die VdO hat ihren, dem ersten Direktor
des Bayreuther Festspielchores Wilhelm Pitz gewidmeten Preis für
herausragende Verdienste um das deutsche Musiktheater im Jahre
1998 Hans Mayer verliehen. Sein Schüler und Freund, Götz
Friedrich, begann die Laudatio auf den aus großbürgerlichem
jüdischen Hause stammenden Deutschen auf Widerruf
(so der Titel von Mayers Autobiografie) mit der Frage: Was
suchst Du hier, ein Leben lang und noch immer, auf dem Grünen
Hügel? Hans Mayers Dankrede ist hier im Wortlaut wiedergegeben:
Meine Damen und Herren,
nun ist natürlich die Dankrede fällig, aber zuerst möchte
ich doch Götz die Frage beantworten: Was suchst du hier,
auf diesem Hügel?. Ich antworte mit einer kleinen Erinnerung,
an die ich gestern auf der Fahrt mit dem Wagen nach Bayreuth wieder
gestoßen bin und die ich niemals verdrängt hatte. Als
ich 16 Jahre alt war, in Köln, 1923, im Schiller-Gymnasium,
durfte ich mir zum ersten Mal selbst ein Thema für einen Hausaufsatz
wählen. Warum, weiß ich nicht, aber ich wählte das
Thema Das Erlösungsproblem bei Richard Wagner.
Und als letzte Arbeit über Richard Wagner, für die Staatsoper
Unter den Linden und für den Einstand mit dem Parsifal
durch Daniel Barenboim schrieb ich einen Text, der jetzt auch in
dem erschienenen Band über Richard Wagner am Schluss der Anmerkungen
zum Werk Richard Wagners steht, über das so abgründige,
vielleicht ur-böse, vielleicht auch chiliastische Wort Erlösung
dem Erlöser.
Ich glaube, wenn man sich das klarmacht, dann ist da doch irgendetwas,
das die Frage nach dem Suchen gleichzeitig auch beantwortet. Da
Götz eben Goethe zitiert hat, so darf ich es auch tun. Goethe
hat von dieser Möglichkeit des Menschen gesprochen, das zu
verwirklichen, was in ihm angelegt war, wie auch immer. Goethe hat
in dem wunderbaren späten Gedicht die Formel gefunden für
jeden Menschen: Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Und er hatte auch einen Ausdruck aus dem Griechischen dafür,
auch einen philosophischen Ausdruck, die Entelechie. Telos ist ein
Ziel, eine Zielstrebigkeit, die, wie mir scheint, in jedem von uns,
in jedem in seiner Art als Individuum unwiederholbar angelegt ist.
Und das Leben eines Menschen ist dann das sagt ein sehr alter
Mann doch wohl geglückt, wenn es ihm gelingt, dieses
in ihm Angelegte auch für sich, und zwar nicht nur als Nachdenken,
als Sagen Ach, eigentlich müsste man mal..., sondern
in der Form der Verwirklichung mit einem Misserfolg oder
einem Erfolg, das ist gar nicht wichtig zu versuchen. Das
auf die Frage, was ich hier suche, und damit spreche ich über
die Aufgabe des Dankens.
Ich weiß genau, wie eine Dankrede jetzt aussehen müsste;
man müsste jedem einzelnen von Ihnen, jeder der Institutionen,
jedem der Redner danken und die Oberbürgermeister oder Bürgermeister,
die ja immer passende Worte parat halten müssen, haben dann
auch eine besondere Formel, sie sagen: Ganz besonders danke
ich.... Und dann kommt der Nächste, und dem wird auch
ganz besonders gedankt, und vor lauter Besonderheiten entfällt
dann plötzlich die Besonderheit. Dies alles möchte ich
nicht, ich könnte es auch nicht. Ich meine es anders. Was hier
heute mit mir ganz unerhofft, sehr spät im Leben, geschieht,
das ist ein großer Lebensaugenblick, und alle, die mitgewirkt
haben, dies zu ermöglichen, sollen wissen, dass ihnen mit großer
Dankbarkeit geantwortet wird. Das ist kein höfliches, rituelles
Dankeschön, das ist die tiefe Dankbarkeit eines alten Mannes.
Der Wilhelm Pitz-Preis wird zum achten Mal verliehen, zum ersten
Mal heute an einen Nicht-Mitwirkenden der Bayreuther Festspiele.
Warum dem so ist, hat Götz Friedrich in der sehr schönen,
sehr herzlichen, sehr liebenswerten Weise vor mir entwickelt. Ich
möchte die Gelegenheit aber nutzen, auch von mir aus die Beziehung
herzustellen.
Lassen Sie mich von Wilhelm Pitz sprechen. Ich habe ihn bereits
1960 kennen gelernt. Wieland hat uns miteinander bekannt gemacht,
es hat viele Gespräche gegeben, und ich meine, da war nicht
nur ein bedeutender Musiker und großer Erzieher, da war mehr;
und wenn ich von Wilhelm Pitz spreche, so meine ich natürlich
auch Norbert Balatsch, der dies alles weiterführte und zur
ständig erwarteten, erwartungsvoll erwarteten Realität
in Bayreuth gemacht hat. Ich weiß wovon ich rede, wenn ich
über die Chöre, die sehr guten Chöre der 20er-Jahre
und auch noch der Kaiserzeit spreche und sprechen kann. Ich habe
ja mit 15 Jahren zum ersten Mal, sehr gegen den Rat meiner Berliner
Verwandten, den Tristan gesehen. Eine unvergessliche
Aufführung. In meinem zweiten Band Ein Deutscher auf
Widerruf in dem Kapitel Bayreuth habe ich darüber
gesprochen. Hier begann eine Beziehung, die mich nie losgelassen
hat.
Aber es war doch ein Chorwesen, wie es Heinrich Mann im Untertan
sehr boshaft beschrieben hat: Diederich Hessling, die kleinbürgerliche
Karikatur seines Kaisers, des deutschen Kaisers und Königs
von Preußen, geht mit Gustchen, seiner Untergebenen und Verlobten,
die er dann als Ehemann in Zucht nehmen wird, in den Lohengrin.
Und er beschreibt den Chor im Lohengrin, der in drei Akten viermal
jubelt, jeweils neuen Herrschenden, neuen Führern und Führergestalten,
immer anderen, immer gleich bereit, heute würde man sagen:
fast einsatzbereit. Und Wilhelm Pitz und das, was dann entstanden
ist, war die tiefe Absage an dieses Nichternstnehmen der Werke und
ihrer Gegenwärtigkeit. Es entstand und das ist hier
in Bayreuth geschehen und hat seine Wirkung bis heute auch an ganz
anderen Opernhäusern gehabt eine musikdramatische Entwicklung:
der Chor, die Masse als Menschen, als einzelne Menschen. Ich wüsste
niemand als die Bayreuther und in seiner Art auch Walter Felsenstein,
die das Ernstnehmen gerade auch der Massen und ihrer Gegensätze
zu den Individuen, der Helden und ihrer sogenannten Gefolgschaft,
geschildert haben.
Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen, damit Sie sehen, was hier
von Bayreuth aus die Bayreuther Chöre sind beispiellos
geblieben, wir wissen es alle entstanden ist. Ich spreche
einmal natürlich von Götz Friedrich, von seiner Tannhäuser-Inszenierung,
von dem, was dort entstand, wie dort im Wartburg-Akt plötzlich
die ganze schreckliche Realität des Geschehens klar wurde.
Tannhäuser hat sich verredet, verquatscht, er sprach
vom Venusberg. Jetzt die Empörung. Die Weiber werden weggeschickt.
Die Ritter ziehen das Schwert: Nun, Herr Tannhäuser,
jetzt kommen wir mal zu Ihnen! Dann die erschreckende, großartige
Erscheinung der Elisabeth: Ich bet für ihn, ich
flehe um sein Leben! Wer das erlebt hat, der weiß, was
hier im Namen von Wilhelm Pitz, seinen Mitarbeitern und seinen Chören
geleistet wurde. Ich erinnere, um ein ganz anderes Beispiel zu geben,
an den Moses und Aron, an Jean-Pierre Ponnelle, den
so liebenswerten, mit dem ich hier auf dem Hügel noch ein langes
Gespräch hatte darüber, wie ein Lohengrin
aufzuführen sei. Wenn wir erlebten, wie in den Münchner
Festspielen ich durfte damals die Eröffnungsrede halten
über Moses und Aron , wie der Tanz um das
Goldene Kalb in aller Schauerlichkeit, Entsetzlichkeit, menschlicher
Gier, Bosheit und tiefer Hoffnungssuche dargestellt wurde
dann weiß man, dass der Wilhelm Pitz-Preis den Namen eines
bedeutenden Zeitgenossen trägt, dass es für uns alle und
auch für mich eine große Ehre ist, Träger dieses
Wilhelm Pitz-Preises geworden zu sein.
Lassen Sie mein eigenes Befremden und meine eigene Freude zu dieser
Preisverleihung hinzugeben: Hier ist etwas entstanden, im neuen
Bayreuth und bis heute immer wieder in Wandlungen, aber immer wieder
mit einer großen Kontinuität. Es war von den Leitern
der Bayreuther Festspiele, also beiden Brüdern, Wieland und
Wolfgang, der Plan entstanden: Man muss die Werke auch neu interpretieren
und diskutieren in ihrer Widerspruchshaftigkeit, nicht bloß
in immer neuen Arrangements dessen, was Wagner mit seinen Anweisungen
und in ihrer späteren Entwicklung vorgegeben hatte. Wir haben
doch in den Bayreuther Archiven die Briefe gelesen, von Eva Wagner
und anderen über das Entsetzen, dass neue Parsifal-Dekorationen
gemacht werden sollten, und die unsinnige Frage kam: Man kann
doch nicht Dekorationen entfernen, auf denen noch der Blick des
Meisters geruht hat? Das ist ein musealer Gedanke, der natürlich
nicht gilt, es musste neu und nun nach Ende des Tausendjährigen
Reiches erst recht alles neu betrachtet werden. Ich weiß noch,
wie Wagner an der Kulturbörse unter Null gehandelt wurde, 1945.
Durch die vielen Gespräche: Naja, der Holländer,
den kann man ja spielen, sogar noch den Tannhäuser,
Lohengrin sicher nicht, Meistersinger
um Gotteswillen, und der Ring! Die alten Germanen, wer
will das denn erleben? Das musste alles neu ins Bewusstsein
geholt werden, und hier war nicht nur Eure, der Festspielleiter
neue Entschlossenheit, Ihr hattet auch einen Helfer, der für
mich gerade mit den Aufsätzen, die ich für Bayreuth geschrieben
habe, einer der großen Anreger und Vollstrecker gewesen ist.
Und ihm möchte ich auch sagen, wie sehr er dazu gehört:
Dr. Bauer. Oswald Georg Bauer, mit dem ja das alles überhaupt
erst entstehen konnte. Und auf der anderen Seite auch wir, die herangeholt
wurden von Euch, auch wir waren ein Team. Wir waren eine Mannschaft.
Drei, die nicht mehr da sind, hätten ja auch den Preis heute
an dieser Stelle haben können: Ernst Bloch, Karl Dahlhaus und
Wolfgang Schadewaldt. Der Philosoph, der große Musikologe
und Herausgeber der Werke Richard Wagners, und der klassische Humanist,
der klassische Philologe, der den großen, so dunklen und wichtigen
Bereich Richard Wagner und die antike Tragödie,
Oper und Drama, die ohne die Antike ja nicht denkbar sind, möglich
gemacht hat. Dazu kam der Germanist und der Kulturhistoriker. So
ist diese Gemeinschaft entstanden, und indem ich diesen Preis heute
empfange, bekenne ich mich zu dieser Gemeinschaftsarbeit, die wir
vielleicht damals gar nicht so genau empfunden haben, obwohl wir
alle in einem sehr engen Verhältnis zueinander gestanden haben.
Mit Ernst Bloch auf alle Fälle; ich erinnere mich aber auch
an das Jugend-Festspieltreffen, an ein großes Seminar, das
Karl Dahlhaus und ich gemacht haben. Auch die Beiträge Wolfgang
Schadewaldts sind stilbildend und richtungbildend gewesen.
Und lassen Sie mich doch noch zu ihm selbst kommen, zu Richard
Wagner. Da war immer wieder das Problem der Erlösung, da war
immer wieder das Problem der merkwürdigen Einflüsse. Richard
Wagner hat nie etwas preisgegeben von alledem, was er für sich
erworben, gelernt hatte. Es gibt im Kunstwerk der Zukunft,
das in Zürich erschien, eine große, tiefe, ehrfurchtsvolle
Widmung an Ludwig Feuerbach. Ich glaube, dass Richard Wagner nie
von dieser nicht-religiösen, nicht-christlichen Grunderkenntnis
Feuerbachs abgegangen ist. Es ist ein vollkommenes, bösartiges
und gewolltes Missverstehen, wenn Nietzsche in dem berühmten
Bänkelgedicht gegen den Parsifal gesagt hat, das sei Roms
Glaube ohne Worte. Dass ausgerechnet Nietzsche sich über
die Ultramontanen aufregt, als Protestant, als Sohn eines protestantischen
Pfarrers, Nietzsche, der ja eine ganz andere Meinung zu diesen Dingen
gehabt hat, verwundert, ist nicht ernst zu nehmen.
Richard Wagner hat alles in sich aufgenommen. Ich hatte geglaubt,
dass in späteren Auflagen seines Traktats die Widmung an Feuerbach
gestrichen würde. Bis zur Eröffnung der Tagebücher
Cosimas war ich immer der Meinung, dass Cosima das wahrscheinlich
veranlasst hätte. Das ist falsch. Cosima hat überhaupt
keine Wirkung gehabt auf das Werk und das Denken Richard Wagners.
Sie war in dieser Beziehung dienend und hat auch nichts anderes
sein wollen. Nein, er hat alles immer gleichzeitig gehabt. Er hat
noch in der letzten Lebenszeit in Venedig dem Herrn von Glasenapp,
in der Gondel fahrend, vor dem Palazzo Vendramin gesagt: Schauen
Sie die Palazzi an! Das ist alles Eigentum, Proudhon hat recht gehabt.
La propriete c´est le vol, Eigentum ist Diebstahl. Er
hat das in seiner Pariser Zeit erlebt. Dort hat er Proudhon kennen
gelernt, genauso wie er auch Bakunin gekannt hat und mit ihm fliehen
wollte, mit ihm auf den Barrikaden in Dresden war. Und wenn wir
heute den Ring sehen und nachher die Götterdämmerung
erleben, kann man zugespitzt sagen: Der Ring beginnt
mit Proudhon und endet mit Bakunin. Er beginnt mit dem Eigentum,
mit dem Raub des Rheingolds, und der Fluch liegt auf dem vol,
dem Diebstahl, und es endet mit der In-Brand-Setzung der bürgerlichen
Gesellschaft und Wirtschaft, der giftigen Geldwirtschaft,
wie der von Wagner immer bewunderte Jude Ludwig Börne es formuliert
hat. Das geht zugrunde, Walhall geht zugrunde, und ich meine, wir
sind erst am Anfang einer ernstzunehmenden Wagner-Forschung.
Die Frage ist doch die nach dem geschichtlichen Augenblick Richard
Wagners und unserem geschichtlichen Augenblick in Bezug auf Richard
Wagner. Und das geschieht am Ende des Jahrhunderts und Jahrtausends.
Was sich um uns vollzieht, ist doch das Ende der bürgerlichen
Gesellschaft, die seit der Renaissance und im Grunde seit dem frühen
16. Jahrhundert begonnen hat. Richard Wagner hat sie auch als Utopie
dargestellt in den Meistersingern. Der Schluss der Meistersinger
ist gleichzeitig der Schluss des Wilhelm Tell von Schiller:
Und frei erklär ich, sagt der Junker Rudens, frei
alle meine Knechte. Der Junker wird ein Bürger. Aber
zwischen Schiller, wenn man so will zwischen Lessing, Mozart, zwischen
Schiller und Beethoven und dem Goetheschen Egmont und von
Beethoven zu Wagner vollzieht sich doch eine große, niemals
in dieser Form bisher erforschte Wandlung. Ja freilich, am Ende
der Meistersinger steht die Erkenntnis: Zerging
in Dunst das Heilige Römische Reich, es bliebe gleich die heilige
deutsche Kunst. Bei Schiller ist die Hoffnung des Wilhelm
Tell noch eine Hoffnung auf eine neue, eine bürgerliche, menschenwürdige
demokratische Gesellschaft. Bei Hans Sachs und Wagner steht bereits
der Zweifel, der Pessimismus. Was geschieht, wenn das Reich im weitesten
Sinne zugrunde geht, aber die Kunst übrigbleibt? Und was geschieht,
fragen wir, müssen wir fragen, ein Jahrhundert später,
wenn auch die heilige deutsche Kunst, das große bürgerliche
musikalische, philosophische, literarische, dichterische Erbe in
Dunst zerfällt? Zerfiel in Dunst die heilige deutsche
Kunst wie wir Wagner neu nach einem Jahrhundert sehen
müssen? Es gibt Elemente, die es ahnen lassen.
Eines ist gescheitert in unserem Jahrhundert: der wahnhafte Versuch,
der heiligen deutschen Kunst, wie man sie zu verstehen glaubte,
einen materiellen Boden im Gesellschaftlichen und Politischen zu
geben, der heiligen deutschen Kunst oder dem, was man dafür
hielt, eine deutsche Weltherrschaft als solide Grundlage zu geben.
Das Ergebnis war: Die Kunst ist zugrunde gegangen, und das Deutsche
Reich ist zugrunde gegangen. Und jetzt geht der Weg in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts zu den Fragen: Welche gesellschaftlichen
Grundlagen haben Werke wie die Verbindung von Mozart und Minna von
Barnhelm, von Egmont und Wilhelm Tell und Beethoven, von Richard
Wagner und den großen Werken der deutschen Aufklärer,
der Welt der Utopie am Ende der Meistersinger und der
Welt der Götterdämmerung? Was ist davon als
denkbare und wünschbare Folge zu erwarten? Die Antwort haben
wir nicht. Wir erleben heute Abend den Schluss der Götterdämmerung.
Walhall versinkt. Für mich stirbt Wotan in Walhall, wie es
Waltraute ja auch angedeutet hat. Wotan geht zugrunde, er hat aufgehört,
ein Gott zu sein. Er geht mit der Welt zugrunde. Aber die Nornen
sagen es ja heute Nachmittag: Das Seil ist zerrissen, die Gemeinschaft
ist nicht mehr vorhanden, die das Individuum und die Gesellschaft,
den Staat und die Wirtschaft, den Einzelnen und seine Entfaltungsmöglichkeiten,
eine geprägte Form, die lebend sich entwickelt, möglich
machte. Und zerschellt ist auch der Speer des Wotan mit den Runen,
die trotz allem die Runen des Rechtes, wenn auch nicht immer die
Runen der Gerechtigkeit waren. Und den Weltenschöpfer langweilt,
weil daraus die bürgerliche Gesellschaft die Nornen
sagen es ja entstehen konnte. Das geht zugrunde.
Was steht am Ende nach vier Abenden, die zeigen, dass dieses Werk
doch beispiellos ist, dass Thomas Mann recht hatte, wenn er in einer
Rede einmal sagte: Wir haben nicht den großen internationalen
bürgerlichen Roman der Russen, der Franzosen, der Engländer
und der Amerikaner im 19. Jahrhundert gehabt. Das deutsche Gegenstück
dazu, das war der `Ring des Nibelungen´ von Richard Wagner.
Ich habe in dem Aufsatz für Bayreuth Der Ring als bürgerlicher
Roman den Gedanken weitergeführt. Aber: wo endet der
bürgerliche Roman? Die wunderbare Musik am Schluss ist eine
Musik vielleicht des Prinzips Hoffnung. Ich hoffe
es, ich glaube es. Aber, und damit lassen Sie mich schließen:
Richard Wagner und wir, von hier aus müssen wir es sehen, aber
Alberich überlebt.
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